Interview mit Guido Messina, Olympiasieger/Weltmeister "von damals"

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kocmonaut
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Interview mit Guido Messina, Olympiasieger/Weltmeister "von damals"

Beitragvon kocmonaut » 22.10.2016, 00:38

Italien ist das Land der Radfahrer, der Championi, der Eroici. Einer von ihnen ist Signore Guido Messina, ein Eroico aus der goldenen Ära des Radsports, denn nur ganz Wenige dürfen sich über 60 und fast 70 Jahre lang Weltmeister und Olympiasieger nennen. Über meine Kontakte frage ich einfach mal für ein Interview für HFS an. Signore Messina ist erfreut und sagt zu. So fahren mein Schatz als Dolmetscherin und ich von unser letzten Urlaubsstation Turin aus einmal vor die Tore der Stadt, wo Signore Guido und Signora Bruna Messina seit vielen Jahrzehnten zu Hause sind.

"Buon Giorno Signore Messina. Piu di ottanta anni, ma sempre in muovo, da vero? - Guten Tag Herr Messina, über achtzig Jahre alt und immer noch in Bewegung?" frage ich und blicke zum Ergometer herüber. Herr Messina ist 85 Jahre alt. Auf der Straße fährt er nicht mehr, aber Stillsitzen kann er auch nicht. Somit wird in der Stube mit Blick auf die Alpen pedaliert. Neben dem Ergometer steht das Bügelbrett. Im Alter verbringt man die Zeit gemeinsam. Bei paste dolce e espresso (Kaffee und Kuchen) machen wir es uns umrahmt von Urkunden, Bildern und Pokalen gemütlich.

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Ich erkundige mich nach den Anfängen: "Mit 17 Jahren schon Weltmeister. Sind sie gleich aus der Wiege auf das Rad gestiegen?" Signore Messina lacht. "Nein. Aufgewachsen im armen Sizilien habe ich mit 12 Jahren mein erstes Taschengeld in einem Fahrradladen verdient. Mein Chef nahm mich mit auf Trainingstouren - und verlor bald darauf die Lust, als ich ihm nur noch das Hinterrad zeigte. So schickte er mich (inzwischen 14 Jahre alt) mit dem Einverständnis meiner Eltern "zunächst für 2 Wochen" nach Turin, wo ein Freund ein Nachwuchsteam leitete und mich bei sich zu Hause aufnahm."

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Nachdem Guido dort regelmäßig Rennen gewann, gab es keinen Grund mehr für einen Rauswurf oder eine Rückkehr. Doch der junge Guido war so stark, dass er schon bald bei den Erwachsenen startete. Bei heimischen Rennen kein Problem. Aber bei Weltmeisterschaften? Also wurde in einer geheimen Mission der Ausweis "korrigiert" und Guido durfte 1948 mit unbekannten 17 Jahren (Jugend-WM gab es "damals" noch nicht) bei der Bahn-WM der Amateure in der Einer-Verfolgung starten - und zur Überraschung aller gewinnen.

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Dieser und weitere Erfolge führten dazu, dass Guido Messina 1952 ins italienische Olympia-Team der Mannschaftsverfolgung berufen wurde. Das Team startete mit hohen Erwartungen - und die Erwartungen wurden erfüllt: Das Team wurde Olympiasieger!

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Guido Messina an Pos. 3

"Warum sind Sie die WM als Einzelfahrer und die Olympiade im 4er gefahren - neue Vorliebe?" frage ich. "Bei der WM wurde nur Einer-Verfolgung gefahren, bei Olympia nur 4er Verfolgung." Aha, so ist das. Nachdem Guido Messina 1953 zum zweiten Mal Weltmeister bei den Amateuren in der Einer Verfolgung wurde, wurde er Profi im Frejus Team. Damit war auch das Kapitel Olympia abgeschlossen, denn zu der Zeit war Olympia den Amateuren vorbehalten.

"Was war der Antrieb, Profi zu werden: Das Hobby zum Beruf machen - stärkere Gegner - Geld, Autos, Frauen?" frage ich. "Das kann ich doch nicht erzählen, wenn meine eigene Frau neben mir sitzt." scherzt Signore Messina. "Nein, es war eine natürliche Entwicklung, die zwangsläufig zum nächsten Fortschritt drängte."

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(Fausto Coppi im Windschatten von Guido Messina)

So gelang es Guido Messina, in den Jahren 1954-1956 auch bei den Profis Weltmeister in der Einer-Verfolgung zu werden. 1956 besiegte er dabei im Finale den jungen Jacques Anquetil (s.u.: 3. von links: Guido Messina, rechts daneben Jaques Anquetil, Fausto Coppi)

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"Ihr schönster Erfolg? frage ich Signore Messina. "Si! - Ja, aber nicht, weil es Jacques Anquetil war, sondern weil es ein perfektes Rennen war."

Nicht nur als Amateur sondern auch als Profi (u.a. Team Frejus, Molteni)

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fuhr Guido Messina Straßenrennen - meist in Italien und in Frankreich. Höhepunkt der Karriere auf der Straße: Etappensieg beim "Heimspiel" auf der 1. Etappe Mailand-Turin und ein Tag im "Maglia Rosa" beim Giro Di Italia 1955!

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"Wie kam es zum Wechsel auf die Straße?" frage ich. Signore Messina erwidert: "Es gab keinen Wechsel. Früher gab es keine Trennung zwischen Bahn- und Straßenfahrern. Man fuhr beides, wobei es natürlich entweder starke Bahnfahrer oder starke Straßenfahrer gab. Ich hatte Muskeln und war ein starker Bahnfahrer. Andere hatten einen großen Motor und waren gute Rundfahrer, noch andere waren gute Bergfahrer. So wie heute - aber einen wie Bradley Wiggins, ein einmaliges Phänomen, das Bahn und Straße beherrschte, gab es damals nicht."

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Wir unterhalten uns noch weiter über die Gegner und Helden von damals und heute. Guido Messina verfolgt den Radsport auch heute noch am Fernseher. Doch tauschen möchte er nicht. Signore Guido und Signora Bruna Messina sind glücklich und zufrieden. Als es langsam dunkel wird, verabschieden wir uns. Auf der Fahrt zurück nach Turin beschließen mein Schatz und ich, genauso alt und glücklich werden zu wollen.' Und wenn ich auf dem Ergometer sitze, macht mein Schatz die Wäsche' füge ich still hinzu.

Anmerkung: Die schwarz-weiss-Fotos sind scans aus dem privaten Foto-Archiv von Guido Messina- von daher eingeschränkte Qualität
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mad.mat
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Re: Interview mit Guido Messina, Olympiasieger/Weltmeister "von damals"

Beitragvon mad.mat » 22.10.2016, 07:21

Vielen Dank an dich und deinen Schatz für diesen wunderbaren Bericht!
Wir sehen uns da oben, Tschüss Helmut
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Knud
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Re: Interview mit Guido Messina, Olympiasieger/Weltmeister "von damals"

Beitragvon Knud » 31.10.2016, 21:06

Schöööön.
Einfach mal schwärmen, wenn die Straße ungemütlich wird...
Knud
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VeloC
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Re: Interview mit Guido Messina, Olympiasieger/Weltmeister "von damals"

Beitragvon VeloC » 01.11.2016, 20:40

Kann mich Matthias und Knud nur anschließen:

:GrosseZustimmung:
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kocmonaut
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Re: Interview mit Guido Messina, Olympiasieger/Weltmeister "von damals"

Beitragvon kocmonaut » 09.11.2016, 21:28

Hallo mad.mat/Knud/VeloC,
Hallo Ihrs,

Danke. Anders als bei den Jedermannrennen oder RTFs in der Umgebung fehlt bei meinen Berichten mit persönlichen Erzählungen aus Italien der Austausch des Erlebten untereinander - insbesondere bei dieser Reise in alte Zeiten. Auch wenn Helmuts Fahrrad Seiten eine passendes Forum für Erlebnisse rund um das Rad darstellt: Ihr seid zum Lesen verdammt, zwangsläufig ist es um so schwieriger, Euch hierbei mitzunehmen. Schön, dass es Euch dennoch gefallen hat.

Lars

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